Oder aber: Wie ein massiver Fehler bei der Ermittlung eines nationalen Wahlergebnisses in der Schweiz fast niemanden auffiel. Und jene, die etwas ahnten … schwiegen.
In der Schweiz die Prozente für eine Partei – im Eidgenössischen sagt man dazu für gewöhnlich: Parteistärke – zu ermitteln, ist nicht wirklich einfach. In manchen Kantonen haben die Wählenden lediglich eine Stimme, in den meisten jedoch zwei oder mehr, im Kanton Zürich gar 36 Stimmen. Die Anzahl der Stimmen ist dabei ident mit der Anzahl der Mandate, die in einem Kanton für den Nationalrat zur Verfügung stehen. Uri stellt als kleiner Kanton ein Mandat, der deutlich einwohnerstärkere Kanton Waadt in der Westschweiz hingegen 19, um zwei weitere Beispiele zu benennen.
Um aus diesem Wirrwarr ein annähernd realistisches (Prozent-)Bild zu „zaubern“, das die eine Stimme in einem Kanton so stark gewichtet wie die Stimmenvielzahl in einem anderen Kanton, hat das schweizer Bundesamt für Statistik (BfS) die Formel „fiktive Wählende“ entwickelt.
Für die Anwendung der Formel, die aus einem simplen mathematischen Dreisatz besteht, braucht es pro Kantonspartei folgende Daten: 1. die Anzahl der gültigen Wählenden im Kanton; 2. die Gesamtzahl der im Kanton abgegebenen Stimmen und 3. die Stimmen, die die jeweilige Partei bzw. Liste (incl. all ihrer Unterlisten) erhalten hat.
Um das Ergebnis der alle vier Jahre stattfindenden Nationalratswahl in der Schweiz zu ermitteln, müssen dafür eine höhere dreistellige Anzahl von zumeist vier- bis siebenstelligen Zahlen erfasst und diese in der Regel den richtigen nationalen Parteien und Listen zugeordnet werden. Wahlgerechtigkeit kennt in der Schweiz einen primär rechnerischen Preis.
Im Jahre 2011 haben wir als Wahlfieber Team eine Tabelle kreiert, die genau dies leistet – auf Basis einer an Excel angelehnten Anwendung. Es bedurfte mehrerer Testläufe, bis die Datei einwandfrei funktionierte und auch der letzte kleine Fehler in den umfangreichen Formeln ausradiert worden war. Danach lieferte unser „Excel“-Dokument ein korrektes Wahlergebnis bis in die zweite Nachkommastelle – und dies noch bevor das BfS als offizielle Wahlbehörde die ebenso offiziellen Ergebniszahlen präsentieren konnte. So lief es problemlos in den Jahren 2011, 2015 und 2019. Und im Grunde auch 2023. Aber eben nur „im Grunde“.
Denn: Offenbar sind wir die Einzigen und zudem Nicht-Schweizer, die eine solche Auswertungstabelle besitzen.
Sonst wäre der folgende, zum Teil gravierende Fehler womöglich viel früher entdeckt worden oder hätte insgesamt vermieden werden können…
Was war passiert? (aus unserer Sicht geschildert)
22.10.2023 – der Wahlabend, kurz vor Mitternacht
Endlich liegt auch das Ergebnis des letzten Kantons vor. Es kommt – wie gehabt – aus dem Kanton Bern. Dort braucht man immer besonders lange oder aber zählt besonders gründlich.
Ich trage die neuen Werte in unser eingangs erwähntes „Excel“-Dokument ein und beginne, ein neues Post auf X/Twitter entsprechend mit den finalen Daten aus der Tabelle zu füllen – ich will schliesslich einer der Ersten sein, die das finale Ergebnis ins Netz stellen.
Einerseits wissend um den ketzerischen Leitsatz „Vertraue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht resp. erstellt hast“ und der leidigen Erkenntnis, dass sich bekanntlich überall der Fehlerteufel einschleichen kann, beschränke ich mich bei den Prozentangaben für die Parteien auf die erste Zahl nach dem Komma. Denn: An irgendeiner Stelle habe ich bestimmt auch in diesem Jahr gepatzt. Zudem: Ich bin allein und habe kein Dutzend Mitarbeiter zur Hand, die alles in Windeseile auf seine 100%ige Richtigkeit überprüfen.
Vor dem Absenden werfe ich noch schnell einen Blick auf die Seite des BfS. Auch dieses verkündet mittlerweile das prozentuale Ergebnis der Parteien. Nur: Keine einzige der dortigen Prozentzahlen ist identisch mit den Werten, die mein Dokument ausgespuckt hat.
„Shit!“ lautet meine spontane Reaktion. „Verdammt, du hast dich verrechnet!“ Aber an welcher Stelle?
Im Warten auf das Ergebnis aus Bern habe ich bereits um die 20 Kantone gegen gescheckt. Nun überfliege ich die restlichen Gebiete. Ein Fehler fällt mir dabei nicht ins Auge.
Ich resigniere..
Zudem: Der Post muss raus.
Ich trage entnervt die Werte vom BfS in den X-Post ein. Wird schon stimmen, rede ich mir ein. Bei der Wahlbehörde werden sie bestimmt korrekt gerechnet haben. Und: Der Fehler liegt dann wohl doch bei mir. Ich ärgere mich massiv.
Später in der Nacht finde ich tatsächlich gefühlt eine Handvoll Unstimmigkeiten in meiner Berechnung. Stimmen im niederen 4-stelligen, einmal im 5-stelligen Bereich, die ich falsch zugeordnet habe. Mit der Korrektur ändern sich bei einigen Parteien die Werte in der zweiten Nachkommastelle - mehr aber passiert nicht.
Ich gebe frustriert fürs Erste auf!
25.10.2023
Das BfS vermeldet unvermittelt auf seiner Seite eine „Korrektur bei den publizierten nationalen Parteistärken“ und teilt demütig mit: „Im Nachgang zu den eidgenössischen Wahlen hat das BFS bei Qualitätskontrollen zu seiner Wahlstatistik einen Fehler bei der Berechnung der aggregierten nationalen Parteistärken festgestellt.“
Auch die Ursache wird sogleich benannt: „Grund für den Fehler bei der Berechnung der nationalen Parteistärken ist eine fehlerhafte Programmierung im Datenimportprogramm für die drei Kantone AI, AR, GL“ Infolgedessen kam es beim BfS offenbar zu einer „Mehrfachzählung (drei- bis fünffach) der in den drei Kantonen abgegebenen Stimmen für die dort angetretenen Parteien. Diesen Parteien wurden demnach zu viele Stimmen zugerechnet, was sich in einer zu hohen nationalen Parteistärke bei der SVP, der Mitte und der FDP niederschlägt.“
https://www.wahlen.admin.ch/de/ch/
Die Prozentzahlen, die ich direkt danach lese, kommen mir vertraut vor. Um nicht zu sagen, sehr vertraut. Zum Verwechseln ähnlich entdecke ich sie als finale Prozentwerte in unserem besagten „Excel“-Dokument zur Ermittlung des Ergebnisses der Nationalratswahl 2023.
Ach, hätte ich doch …
Hätte ich doch meinen eigenen Zahlen mehr vertraut und das publizierte Ergebnis des BfS zumindest auf X sofort offen angezweifelt.
Hätte, hätte … Fahrradkette.
Genauer formuliert: Ich habe mich nicht getraut. Denn: Ein solch gravierender Missgriff im offiziellem Wahlergebnis erschien mir undenkbar.
Das Fazit:
Verdammt dumm gelaufen!
In erster Linie natürlich für das BfS. Um nicht zu sagen: So was darf unmöglich passieren!Dass es trotzdem passieren konnte, spricht nicht unbedingt für das BfS. (Ich rege künftig die Verwendung unserer „Excel“-Tabelle an. Dort taucht jeder Kanton nur einmal auf, keinesfalls mehrfach)
Aber eben auch dumm gelaufen für mich. 2027 agiere ich hoffentlich klüger. Andererseits: Diese Geschichte glaubt mir in Gänze sowieso niemand. So what?!
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Ein politisches Nachspiel sollte die schnöde Angelegenheit (hoffentlich) dennoch haben:
In der ersten Publikation des BfS lag die Partei Die Mitte – der Zusammenschluss von CVP und BDP – erstmalig an dritter Stelle, also vor der liberalen FDP.
Dies hätte mit Sicherheit Auswirkungen auf den ebenfalls noch dieses Jahr zu wählenden Bundesrat – die siebenköpfige schweizer Regierung - gehabt.
Für dessen Zusammensetzung gilt bislang eine sogenannte „Zauberformel“, gemäss der die ersten drei Parteien im Ranking je zwei Regierungsvertreter stellen und die Viertstärkste eine Person.
Alle Überlegungen bzgl. Veränderungen im Bundesrat sind jetzt vermutlich Makulatur, da die FDP nun wieder, wenn auch nur hauchdünn, vor den Christdemokraten liegt.
Sofern es denn – man weiss bekanntlich ja nie – wirklich bei diesem zweiten Ergebnis bleiben sollte.
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Nachtrag:
Auf X jubelte Michael Hermann, Politikerwissenschaftler von Sotomo – sein Institut ist verantwortlich für das SRG-Wahlbarometer – ob der BfS-Panne: „Das ist womöglich eine Weltpremiere. Wahlumfrage ist genauer als die amtlich publizierten Schlussresultate des #BFS“
https://twitter.com/mhermann_/status/1717137792831000961
Auch ihn muss ich enttäuschen bzw. korrigieren. Denn korrekt muss es heissen: „Das ist womöglich eine Weltpremiere. Wahlfieber-Wahlbörse ist genauer als die amtlich publizierten Schlussresultate des #BFS.“
Das Wahlbarometer für das SRF schneidet – primär ob einer Fehlleistung bei der Prognose für die glp – in Summe schlechter ab als das erste „Schlussresultat des BfS“.
Als einzige „toppen“ die Wahlfieber-Prognosen und der Wahltrend von PolitPro.eu die Fehlleistung der Wahlbehörde – siehe unsere aktualisierte Auswertung.
Ach, hätte ich doch …
Hätte ich doch meinen eigenen Zahlen mehr vertraut und das publizierte Ergebnis des BfS zumindest auf X sofort offen angezweifelt.
Hätte, hätte … Fahrradkette.
Genauer formuliert: Ich habe mich nicht getraut. Denn: Ein solch gravierender Missgriff im offiziellem Wahlergebnis erschien mir undenkbar.
Das Fazit:
Verdammt dumm gelaufen!
Volles Verständnis, das kann man ja echt nicht glauben.
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